Noch bis vor kurzem wäre mir eine Wanderung durch Deutschland nicht in den Sinn gekommen. Zu unspektakulär, nicht weit und/ oder exotisch genug, zu traditionell – um nicht zu sagen altmodisch, erschien mir diese Vorstellung.
Bei dem Gedanken daran stellten sich Fragen bzw. kamen Bilder in den Sinn wie: „Wandern in Deutschland? Hat das nicht Opa immer gemacht, so mit selbstgeschnitzem Wanderstock und Juterucksack?“ Vor meinem inneren Auge sah ich alte, vergilbte schwarz-weiß Aufnahmen mit glücklichen Wanderern irgendwo um das Jahr 1930.
Corona schränkte jedoch den Aktionsradius und die vielen Möglichkeiten, die Welt zu bereisen, ein und sorgte dafür, sich auf das eigene Land/ Region zu konzentrieren und auf die Möglichkeiten vor Ort zu besinnen. Nach den Monaten im Lockdown, mit geschlossenen Geschäften und Beherbergungsverbot erschien eine Wanderung durch Deutschland plötzlich reizvoll, exotisch, spannend und abenteuerlich. Wer hätte das gedacht?
Wahrscheinlich wäre ich sonst nie auf die Idee gekommen, eine Wanderung durch Deutschland zu unternehmen. Schon gar nicht durch meine Heimatregion. Und, so meine Gedanken, wer weiß, ob dieser Impuls die eigene Heimat zu erkunden, wieder kommt. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Irgendwann war dann auch klar, welche Strecke es sein sollte und so begann eine Woche nach Aufhebung des Beherbergungsverbotes das Abenteuer Pilgerreise. 450 km so das ambitionierte Vorhaben, lagen vor mir. Mal sehen, ob mir das Gelingen wird. So ganz ohne Erfahrungen und Vorkenntnisse.
Ökumenischer Pilgerweg
(Via Regia – Abschnitt im Osten Deutschlands)
Sachsen / Sachsen-Anhalt / Thüringen
Es war Zeit, die eigene Heimat, den Osten Deutschlands, wirklich kennenzulernen. Zu Fuß. Wie bereits Goethe wusste, „Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du auch wirklich gewesen.“ Und so führte der Weg einmal quer durch die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – von Görlitz nach Eisenach / Vacha.
Wie schön doch der Osten Deutschlands ist! 450 km Via Regia bedeuten – Natur, Kultur, Genuss und Geschichte. Die Via Regia ist die älteste und längste Landverbindung zwischen Ost- und Westeuropa. Sie ist Europas Kulturroute, Straße der Könige, Straße der Ritter, Straße der Pilger. Sie hat mit mehr als 2.000- jähriger Geschichte sehr viel zu erzählen. Burgen, Schlösser, Klöster und Herrenhäuser sind Zeugen dieser Zeiten und längst vergangener, auch glorreicherer Epochen.
Wer daher den Osten Deutschlands nur auf seine jüngste Vergangenheit reduziert, dem entgeht unfassbar viel. Denn gemessen an den tausenden Jahren davor, fühlt sich diese Epoche winzig an.
Diese Strecke bietet zudem fantastische Natur mit teils unberührten Landschaften. Und sie ist perfekt geeignet für Anfänger und / oder Radfahrer, da sie weitestgehend flach verläuft. In Vacha, dem Ende des Ökumenischen Pilgerweges und des Ostdeutschen Abschnittes der Via Regia, gab es sogar eine kleine Pilgerurkunde. Meine erste auf diesem Weg.
Elisabethpfad 2
Hessen
Noch auf der Via Regia, erreichte mich eine dezente Nachfrage meiner Nichte Dominique, die in Marburg studiert. Falls ich noch nicht müde bin und aufgeben will, würde sie sich sehr freuen, wenn ich sie in ihrer Stadt besuchen kommen würde.
„Hat da jemand aufgeben gesagt? Die 190 km schaffe ich auch noch“, dachte ich mir. Und so führte der Weg, nachdem Vacha erreicht war, zurück nach Eisenach und von dort auf dem Elisabethpfad 2 nach Marburg. Dort traf ich Dominique und verabredete ich mich auch mit Harald, einem Pilger aus Marburg. Einige Tage zuvor hatten wir uns auf dem Elisabethpfad kennengelernt.
Bereits nach dem Verlassen von Eisenach / Vacha und der Fortsetzung der Reise nach Marburg spürte ich zum ersten Mal den „Forrest Gump“ in mir. Er sollte fortan mein ständiger Begleiter werden. Noch hatte ich keine Vorstellung davon, wohin er mich führen sollte…
Lahn-Camino
Hessen / Rheinland-Pfalz
Später fragte auch mein Bruder, ob wir vielleicht gemeinsam den Mosel-Camino von Koblenz nach Trier pilgern wollten. Koblenz? Wie kommt man denn von Marburg nach Koblenz? Klar, einfach ab Wetzlar die 140 km auf dem Lahn-Camino nach Koblenz laufen – flüsterte mein innerer „Forrest Gump“ zu mir. So sollte es sein.
An der Lahn entlang ging es auf wunderbaren Abschnitten und Etappen, nach tollen Begegnungen und Erlebnissen nach Lahnstein bei Koblenz, dem Ende des Lahn-Caminos.
Mosel-Camino
Rheinland-Pfalz
In Koblenz traf ich auf meinen Bruder und tauchte ich in die „Ultra-light-Welt“ ein. Ich tauschte den großen Rucksack gegen eine deutlich leichtere Ausrüstung. Und so liefen beide Brüder den Mosel-Camino „ultra-light“.
Der Mosel-Camino war für mich einer der schönsten Strecken auf der Reise. Definitiv eine Empfehlung.
Am ersten Tag schafften wir entspannt 40km, also zwei Etappen an einem Tag. Was für eine Erfahrung! Aber auch mein Bruder lernte etwas dazu. Er befestigte eine „schwere“ Muschel an seinem ultra-leichten Rucksack, was wiederum seine Wahrnehmung grundlegend änderte. Denn die Muschel macht den Unterschied.
In Trier angekommen erhielten wir im Pilgerbüro in der Dom-Information, gegenüber des Trierer Doms, unsere Pilgerurkunden. Auch plante ich, ob und wie es weitergeht. Um eine Entscheidung zwischen den vielen Möglichkeiten zu treffen, folgte ich einmal mehr meinem ersten Impuls.